Last Updated on 19. December 2023 by Henning Schweer
Ermöglicht die auch im Bildungsbereich fortschreitende Digitalisierung digitale Bildung für alle oder schließen wir in Wirklichkeit bestimmte Gruppen von Menschen dadurch vom Zugang zu Bildungsressourcen aus? Diese Frage beschäftigt mich, seit ich die Tage die Berichte über die Petition des Spaniers Carlos San Juan las. Der ehemalige Arzt protestiert mit ihr dagegen, dass die spanischen Banken zum einen ihr Filialnetz immer weiter ausdünnen und zum anderen viele ihrer Dienstleistungen nur noch online nutzbar sind. Ältere Menschen ohne Zugang zum Internet erleben hierdurch zunehmend Nachteile, etwa wenn selbst Termine in den verbleibenden Filialen nur noch online buchbar sind.
Digitalisierung als Chance
Ich möchte an dieser Stelle kein Digitalisierungs-Bashing betreiben, ganz im Gegenteil. Die Digitalisierung von Angeboten und Dienstleistungen kann gerade für ältere Menschen eine große Erleichterung sein und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Zudem werden vielerorts Möglichkeiten erprobt, wie das Potential der Digitalisierung gezielt für diese Zielgruppe fruchtbar gemacht werden kann. Ich denke aus meiner eigenen beruflichen Laufbahn etwa an das Projekt AGQua (Aktive und gesunde Quartiere Uhlenhorst und Rübenkamp) in Hamburg. Hier wurden u.a. digitale Angebote und Konzepte entwickelt und erprobt, die älteren Menschen eine aktive und soziale Teilhabe in ihrem Wohnumfeld ermöglichen sollen.
Ein konkretes Beispiel aus diesem Projekt ist das digitale Nachbarschaftsnetzwerk MeineNachbarn in dem u.a. unkompliziert gegenseitige Nachbarschaftshilfe angeboten wird und ein lokales Quartiersmanagement sowie eine Gesundheitsberatung zugänglich sind. Genauso bieten digitale Dienstleistungen wie Online-Banking von der Grundidee her eine große Chance für ältere und eingeschränkte Menschen, die eigenen Angelegenheiten selbstständig regeln zu können. Und viele nutzen diese Möglichkeiten auch.
Der Protest von Carlos San Juan lenkt in meinen Augen aber den Blick auf zwei Probleme: zum einen, dass die beschleunigte Digitalisierung in allen Bereichen zunehmend diejenigen ausschließt, die keinen adäquaten Zugang zum Internet haben. Zum anderen, dass digitale Angebote teilweise so angelegt sind, dass sie bestimmte Nutzergruppen durch die Benutzerführung oder versteckte Selektion benachteiligen. Besonders problematisch wird es aus meiner Sicht, wenn auch kommunale Angebote nur noch digital zugänglich sind. Sind zum Beispiel Termine in der Verwaltung oder für öffentliche Einrichtungen wie Schwimmbäder und Beratungsangebote nur noch online buchbar, schließt dies Menschen aus, die keinen ausreichenden Zugang zur digitalen Welt haben.
Die genannten Probleme sind dabei kein Randthema, gaben doch zum Beispiel bei einer Umfrage des Allensbach-Instituts 2021 etwa 40% der befragten Menschen über 60 Jahre an, keine Internetnutzer zu sein. Die Gründe für die fehlende Nutzung können dabei unterschiedlich sein: technische Hürden (z.B. kein W-LAN-Zugang im Pflegeheim, fehlende Netzabdeckung auf dem Land), geringe finanzielle Mittel (Stichwort Altersarmut), sprachliche Hürden (Angebote in Denglisch und Englisch), eine nicht an die Zielgruppe angepasste Benutzerführung usw.
Digitale Bildung: haben wir die negativen Seiten im Blick?
Als jemand, der selbst für eine öffentlich geförderte digitale Hochschulplattform gearbeitet hat, frage ich mich vor diesem Hintergrund selbstkritisch, ob wir alle, die wir im Bereich digitale Bildung arbeiten, diese negative Seite der Digitalisierung wirklich ausreichend im Blick haben. Die Begriffe lebenslanges Lernen, digitale Bildung, gesellschaftliche Öffnung und Teilhabe – gerade auch der Hochschulen – sind aktuell beliebte Schlagwörter, besonders in Verbindung mit dem Begriff Digitalisierung.
Schnell sind sie in politische Absichtserklärungen, Reden, Strategiepapiere, Programme und Leitartikel geschrieben. Aber füllen wir an unseren Hochschulen, Stiftungen, Plattformen und sonstigen Institutionen in den Mühen des Alltags – jenseits von Einzelprojekten – diese Worte über die digitale Bildung konsequent genug mit Leben? Ich glaube, hier ist noch Luft nach oben. Dabei denke ich, dass es nicht am guten Willen mangelt, aber wie bei allen guten Vorsätzen, ist die dauerhafte Verankerung im Alltag die eigentliche Hürde.
Letztlich müssen wir uns selbstkritisch fragen, ob wir (und die Politik) bereit sind, die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen bereitzustellen, um die Bedürfnisse und Wünsche älterer, wenig internetaffiner Menschen in Bezug auf unsere Angebote zu erheben und diese Erkenntnisse einzuarbeiten. Und das nicht nur als befristete Initiative, sondern dauerhaft. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die guten Ansätze nach dem Ende der Förderung in der Versenkung verschwinden oder an der Starrheit und Trägheit bestehender Strukturen und Prozesse scheitern. Sind wir also bereit, langfristig Zeit und Geld zu investieren, um die Bildungsangebote der – schließlich öffentlich finanzierten – Hochschulen aktiv zu denjenigen zu bringen, die keine Digital Natives sind und dafür unsere digitale Blase zu verlassen?
Dabei geht es sowohl darum, überhaupt Zugang zur digitalen Welt zu ermöglichen, aber genauso, die Benutzerführung und Konzeption der jeweiligen Angebote zielgruppengerecht zu gestalten. Ich denke, wir sollten dabei auch nicht in die Falle tappen, zu glauben, dass Menschen, die nicht digital affin sind, generell keine adäquate Zielgruppe für Bildungsangebote aus dem Hochschulkontext wären. Nicht umsonst hat Carlos San Juan seiner Petition den provokanten Titel „Ich bin alt, aber nicht blöd“ gegeben.
Glücklicherweise müssen wir beim Thema digitale Teilhabe älterer Menschen nicht bei null anfangen, sondern können an bereits bestehendes Engagement und Ideen anknüpfen. Neben den Erkenntnissen aus Projekten wie dem oben erwähnten AGQua-Projekt denke ich hier u.a. an das vielfältige Engagement der BAGSO (Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen) zu diesem Thema. In diesem Zusammenhang sei als ein weiteres konkretes Beispiel das Projekt SenGuide erwähnt, in dem älteren Menschen u.a. unterschiedliche Lernmanagementsysteme testen und diese Erfahrungen dann in deren Ausgestaltung einfließen sollen. Wenn es uns gelingt, hierauf aufzubauen und die Bedürfnisse derjenigen in unsere Arbeit zu integrieren, die der digitalen (Bildungs-)welt fernstehen, werden wir der Idee “digitale Bildung für alle” einen großen Schritt näherkommen.
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Externe Links zum Beitrag “Digitale Bildung: (k)ein Angebot für alle:
Berichterstattung der Tagesschau zur Petition von Carlos San Juan (Beitrag nicht mehr verfügbar)
Allensbach-Umfrage auf Statista (vollständige Umfrage hinter Paywall)
Themenbereich Digitalisierung der BAGSO
Homepage des AGQua-Projektes in Hamburg (Website derzeit nicht verfügbar)
Das Projekt SenGuide auf den Seiten des Instituts für Lern-Innovation
Alle Links zuletzt aufgerufen am 06.05.2023.
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